Gedanken zu Franziskus (Teil 9)

In diesem Monat Dezember teilt P. Igor, unser Generalassistent für Mitteleuropa, seine Gedanken mit uns zum Thema der Wundmale des hl. Franziskus:

Anlässlich des 800. Jahrestages der Einprägung der Wunden Christi beim heiligen Franziskus auf La Verna – die Erzählung des heiligen Bonaventura

Vor genau 800 Jahren wurden wir Zeugen eines außergewöhnlichen Ereignisses. Auf dem Berg La Verna empfing der heilige Franziskus im September 1224 als erster Mensch in der Geschichte die Wunden Christi oder die Stigmata. Dieses glorreiche Jubiläum ist eine Gelegenheit, dieses große Geheimnis zu vertiefen, mit dem sich viele der Biographen des heiligen Franziskus beschäftigen. Einer der größten dieser Autoren, der heilige Bonaventura und sein Werk Legenda maior, wird uns bei unseren Überlegungen helfen.

Warum haben wir den heiligen Bonaventura ausgewählt? Aus mehreren Gründen. Erstens bietet sich die Gelegenheit, an diesen großen mittelalterlichen Denker zu erinnern, der zusammen mit dem heiligen Thomas von Aquin den Höhepunkt der mittelalterlichen Philosophie und Theologie bildete. Trotz ihrer Differenzen wollte Gottes Vorsehung sie nicht trennen, und beide beendeten ihren irdischen Weg im Jahr 1274, also vor genau 750 Jahren. Dieser Jahrestag ist daher ein Grund, einige Zeilen Bonaventura zu widmen, der nicht nur philosophische und theologische Abhandlungen verfasste, sondern auch den Franziskanerorden in den schwierigen Jahren von 1257 bis 1273 leitete und mehrere Biografien des Heiligen Franziskus verfasste. Da zu dieser Zeit viele verschiedene und manchmal widersprüchliche Geschichten über Franziskus von Assisi kreisten, wurde Bonaventura mit der schwierigen und verantwortungsvollen Aufgabe betraut, eine offizielle Biografie des heiligen Franziskus zu schreiben, die die verschiedenen Gruppen innerhalb des Ordens vereinen sollte. So wurde 1263 die Legenda maior verfasst, der einige Jahre später die Legenda minor folgte. Alle anderen offiziellen Biographien bis zu diesem Zeitpunkt wurden vernichtet. Man kann sich also leicht vorstellen, dass viele Generationen von Brüdern im Laufe der Jahrhunderte durch die Lektüre von Bonaventuras Version der Biografie des Heiligen Franziskus geprägt wurden, bevor die bereits verbotenen und vergessenen Biografien in den letzten Jahrhunderten wieder auftauchten.

Bonaventura nutzte für seine Legenda maior das reichhaltige Material, das ihm zur Verfügung stand, fügte aber auch eine persönliche Note hinzu. Er beschloss, den Berg La Verna selbst zu besuchen, um das, was Franziskus dort erlebt hatte, nachzuerleben. Das war 1259, mit dem Wunsch nach geistigem Frieden, wie er selbst in der Einleitung zu seinem Werk „Pilgerbuch der Seele zu Gott“ (Itinerarium mentis in Deum) schreibt. Dabei erkannte er, dass die Vision von Franziskus vom geflügelten Seraph in Gestalt des Gekreuzigten die Erhöhung des seraphischen Vaters in der Kontemplation darstellt. Aber wir werden auf diesen Aspekt zurückkommen. Betrachten wir nun kurz die Charakteristika von Bonaventuras Beschreibung der Einprägung der Wunden des heiligen Franziskus auf dem Berg La Verna.

Zunächst einmal ist es interessant, dass Bonaventura das Ereignis zeitlich sehr genau einordnet. Wenn Thomas von Celano, der erste Biograph von Franziskus, schreibt, dass es „zwei Jahre bevor [Franziskus] seine Seele dem Himmel übergab“ geschah, so ist Bonaventura noch genauer, wenn er schreibt, dass es „am Morgen des Festes der Erhöhung des Heiligen Kreuzes“, also am 14. September 1224, geschah. Auf dieser Grundlage legte man einige Jahrzehnte später den 17. September als Fest der Wundabdrücke des Heiligen Franziskus fest.

Bonaventura war jedoch noch mehr darauf bedacht, das Ereignis theologisch zu interpretieren. In seiner gesamten Biografie versuchte er deutlich zu machen, dass Franziskus Jesus in allen Dingen nachahmen wollte, und er ist derjenige, der am meisten für den Titel „alter Christus“, der zweite Christus, verantwortlich ist, der Franziskus ergriffen hat. Bonaventura hat viele Parallelen zwischen Christus und Franziskus gezogen, von der Geburt über den Lebensstil, das Leiden und sogar die Wunder. Doch kehren wir zu dem von Bonaventura im 13. Kapitel der Legenda maior beschriebenen Ereignis zurück.

Bonaventura beginnt mit der Eröffnung des Evangeliums. So wie Franziskus zu Beginn seiner Bekehrung mit seinen ersten Mitbrüdern dreimal das Evangelium aufgeschlagen hat, um den Willen Gottes zu erfahren, so geschah es auch dieses Mal. Bei allen drei Versuchen, das Buch des Evangeliums zu öffnen, begegnete er der Szene der Passion Jesu. Auf diese Weise wurde Franziskus klar, dass er berufen war, Jesus auch im Leiden und im Schmerz nachzuahmen, so wie er ihn in seinem Leben bereits durch Taten der Liebe nachgeahmt hatte. Dieses „glühende Verlangen hob ihn zu Gott empor, und ein besonderes Gefühl des Mitleids verwandelte ihn in denjenigen, der aus übermäßiger Liebe gekreuzigt werden wollte“. Hier haben wir also den ersten Schlüssel zum Verständnis des Ereignisses der Stigmatisation von La Verna: Franziskus wollte Christus in allem nachahmen, besonders in seinem höchsten Akt der Liebe, als er sein Leben am Kreuz für die anderen hingab.

Was die Vision selbst betrifft, so folgt Bonaventura dem Bericht von Thomas von Celano, wonach Franziskus einen Seraph sieht, fügt aber hinzu, dass zwischen den Flügeln das Bild eines Gekreuzigten erschien. Bonaventura, als der erste Biograph, schreibt deutlich, dass der Gekreuzigte in Gestalt des Seraphs in Wirklichkeit Christus selbst ist. Zwei Flügel erhoben sich über seinem Kopf, zwei Flügel waren im Flug ausgebreitet und zwei bedeckten seinen Körper. Bei dieser Vision war Franziskus gleichzeitig von Freude und Traurigkeit erfüllt; Freude, weil er in Christus einen liebenden Blick erkannte, und Traurigkeit, weil er beim Anblick des Gekreuzigten ein Schwert spürte, das seine Seele durchbohrte.

Auch in der Beschreibung der Einprägung der Wunden selbst folgt Bonaventura eher Thomas von Celano als etwa Br. Elias, d.h. es ging nicht um Einstiche oder Löcher, sondern um die Zeichen der Nägel selbst, die aus dem Fleisch herausgewachsen sind. Wichtiger aber ist für Bonaventura die symbolische Bedeutung dieses Ereignisses: Franziskus, „der Freund Christi“, wurde in das sichtbare Abbild des gekreuzigten Christus verwandelt, nicht durch das Martyrium des Körpers, sondern durch die Inbrunst des Geistes.

Diese Deutung wird noch deutlicher nach dem Ereignis selbst, wo Bonaventura den Abstieg des Franziskus vom Berg beschreibt. Hier wird der Poverello als ein neuer Moses dargestellt, der die Zeichen der Herrlichkeit Gottes mit sich trägt, wie der Patriarch des Alten Testaments, als sich sein Gesicht nach der Begegnung mit Gott auf dem Berg Sinai veränderte. Außerdem erinnert Franziskus an Christus selbst, der nach seiner Verklärung vom Berg Tabor herabsteigt, umgeben von der Herrlichkeit Gottes, und er denkt auch an den Kalvarienberg, wo Christus durch die Hingabe seines Lebens allen das Heil schenken wird. Doch hier berühren wir bereits den Aspekt der Ewigkeit: Franziskus trägt mit den Wunden an seinem Leib das Zeichen des Heils und des lebendigen Gottes. Bonaventura spielt gerne mit Zahlen und verwendet für Franziskus mehrfach die Zahlen sechs und sieben: Er sieht in Franziskus den Engel des sechsten Siegels – ein Bild aus der Offenbarung, wo Christus ebenfalls als Engel identifiziert wird -, der die Menschen zur Umkehr aufruft und die Auserwählten mit dem Heilszeichen des Tau auf der Stirn kennzeichnet, nachdem er dieses Zeichen selbst an seinem eigenen Leib empfangen hat. Gleichzeitig ist die Vision des Gekreuzigten auf La Verna die siebte in einer Reihe, die die vorangegangenen sechs bestätigt, die Franziskus bis dahin hatte. Die berühmteste Szene mit dem Gekreuzigten ist sicherlich die in der Kirche des San Damiano, als Franziskus die Aufforderung vernimmt: „Geh und richte meine Kirche wieder auf“. Die Erscheinung in La Verna ist also eine Bestätigung Gottes, dass Franziskus die Weisung Gottes bis dahin immer richtig verstanden hatte und in allem Jesus Christus nachgeahmt hatte. Mit dieser siebten Vision hat sich Franziskus durch die Gabe der Wunden gewissermaßen in den Gekreuzigten verwandelt. Sein verwandeltes Leben ist nun auch äußerlich sichtbar. Eine größere Anerkennung als diese hätte er nicht erhalten können.

Wir haben eingangs Bonaventuras Werk „Pilgerbuch der Seele zu Gott“ (Itinerarium mentis in Deum) erwähnt, in dem er zu Beginn seine Pilgerfahrt nach La Verna erwähnt. Diesem Ereignis fügt er neben dem Erlösungsaspekt, bei dem die Prägung durch die Wunden im Mittelpunkt steht, einen weiteren hinzu, der enger mit der Vision des Gekreuzigten verbunden ist. In dieser Vision identifiziert Bonaventura „die Erhebung des seligen Vaters [Franziskus] in der Kontemplation und den Weg, auf dem wir sie erreichen können“. Das ist der mystische Aspekt der Vereinigung mit Gott, wenn man immer weiter zum Gipfel aufsteigt. Das ganze Werk besteht aus sechs Stufen der Erleuchtung – dargestellt durch die sechs Flügel des Seraphs -, durch die die Seele wie durch Stufen aufsteigt, um durch die entrückten Aufstiege den Frieden der christlichen Weisheit und die mystische Vereinigung mit Gott zu erreichen. Aber es ist nur möglich, auf dem Weg der glühendsten Liebe zum Gekreuzigten dorthin zu gelangen. Jede wahre Erkenntnis, und sei sie noch so rational, ist nach Bonaventura nur in der aufopfernden Liebe zu Gott und zum Nächsten möglich. Und es war diese vollkommene Erkenntnis und Liebe, die Franziskus in besonderer Weise auf dem Berg La Verna teilte, als er, nachdem er den Seraph in Gestalt des Gekreuzigten gesehen hatte, die Zeichen seines Leidens und seiner Erlösung an seinem Leib empfing.